Die Entwicklung des Problemschachs in Speyer

Wenn ein Schachclub gegründet wird, besteht er zunächst nur aus Schachspielern. Oft finden sich dann aber einige Mitglieder, die eine besondere Vorliebe für die »Poesie des Schachspiels«, das Problemschach, entwickeln. Dieses Interesse kann durch eine problemhafte PartiesteIlung geweckt werden, die eine überraschende Matt-, Gewinn-oder Remisführung ermöglicht. Oder man gerät an ein Meisterwerk der Problemkunst, das in der Schachecke einer Zeitung abgedruckt ist und an dem man sich zunächst die Zähne ausbeißt, bis nach Stunden oder gar Tagen die versteckten Pläne des Autors ans Licht kommen. Eine solche Problemperle ist die Nr. 1 von dem berühmten Adolf Anderssen. In einer partienahen Stellung mit materiell überlegen stehendem Schwarzen begnügt sich Weiß nicht mit ewigem Schach durch 1. Da6 + Tb6 2. Da8 +, sondern kann auf raffinierte Weise im 3. Zug mattsetzen.

Schon bevor die erste problemschachliche Aktivität innerhalb Speyers feststellbar ist, machte ein Speyerer Schachspieler in München von sich reden: der 18-jährige Gymnasiast Albert Vogt gewann beim 9. Bayerischen Schachkongress 1924 neben dem Hauptturnier auch das Problemlösungsturnier! Hier bei uns ist das früheste bisher gefundene Zeugnis eines öffentlichen Schachlebens die Schachecke, welche vom »Rheinischen Volksblatt« am 13.2.1926 eröffnet wurde und an jedem Samstag erschien. Im 3. Jahrgang 1928 meldeten sich auch Speyerer Löser zu Wort. Neben dem unvergessenen Ernst Beisel und dem »Dauerlöser« H. Kissel wurden noch W. Kopf, L. Kraus, H. Pfaff (Speyer), Fr. Meindl und G. Weber (Berghausen) erwähnt. Vom darauffolgenden Jahr an tauchten endlich die ersten Urdrucke Speyerer Autoren auf.  Carl Behrens stellte sich mit zwei Zweizügern vor, Nr. 2 und 3. Weitere Zwei-und Dreizüger und eine Remisstudie von ihm folgten in den Jahren 1934-36 in der »Speyerer Zeitung« und »Pfälzer Zeitung«.

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Von Wilhelm Klomann erschienen 1934/35 drei Zweizüger und ein Dreizüger. Diese Aufgaben waren schon recht ansprechend; schöne Opfer wie schon bei Behrens sind das Hauptthema der Nr. 4 und 5. Sowohl Behrens als auch Klomann waren Mitglieder des Schachclubs Speyer. Gute Partiespieler sind in aller Regel auch gute Problemlöser. So wundert man sich nicht, wenn man in der »Pfälzer Zeitung« vom 8.1.1934 liest:
»Aus allen pfälzischen Gauen beteiligten sich 180 Löser am 1. Problemlösungs-Turnier des Pfälzischen Schachbundes ... Gestellt waren ein Zweizüger von Freiherr von Holzhausen und ein Dreizüger von P.A. Orlimont (Zweibrücken). Richtig lösten den Zweizüger 99 Teilnehmer, den Dreizüger 164 Problemfreunde. Die Sieger sind 1. Vogt, Speyer (314 P.) ... 4. O. Ruchti, Speyer (286 P.) ... vor u.a. Dr. Bachl aus Worms.« Dass die Speyerer Spitzenspieler schon immer auch Sympathien fürs Problemschach hatten, beweist außerdem ein Schriftwechsel zwischen C. Behrens und E. Beisel von 1935 aus dem Nachlass des Letzteren. Beisel hat damals die Schachecke im »Rheinischen Volksblatt« redigiert. Dr. Flügel sprang später einmal vorübergehend als Problemwart des Pfälzischen Schachbundes ein.
In der Zeit nach 1935 wurde es wieder still um das Speyerer Problemschach. Aus der Kriegszeit und den ersten Nachkriegsjahren sind keine Aktivitäten überliefert. Danach entwickelte sich die Schachecke im »Pälzer Feierowend«, der Wochenendbeilage der »RHEINPFALZ«, zu einem gesamtpfälzischen Forum für Problemfreunde. Jeder konnte sich hier als Löser oder Komponist bewähren. Dies war das Sprungbrett unserer heutigen aktiven Problemisten. Der erste war Helmut Rössler, der 1961 nach Speyer zog, wo er schon Anfang der 50er Jahre als Referendar tätig war. Die Nr. 6, eine verführungsreiche Miniatur (Aufgabe mit höchstens sieben Steinen), leitete eine produktive Phase von 5 Jahren ein, der noch das nächste Stück, Nr. 7, entstammt. Es zeigt die Orlimont'sche Mausefalle in Doppelsetzung. Die nächste Schaffensperiode (ab 1968) galt neben orthodoxen Stücken vorwiegend dem »Märchenschach«. In der Widmungsaufgabe Nr. 8 herrscht eine komplizierte Schnittpunkt-Thematik vor. Der Stern bei Nr. 9, einem »Meredith« (8-12 Steine), deutet an, dass ein Zugwechselstück vorliegt. Es ist also schon lösbar, wenn der 1. Zug der anziehenden Partei entfällt (»Satzspiel« oder kurz »Satz«).

Sofort ins Auge fallen »Bilder-Aufgaben«. Nr. 10 ist Dr. H. Weißauer, Nachfolger von Th. Orning als Problemwart des Pfälzischen Schachbundes, gewidmet. Große Schwierigkeiten darf man von Buchstaben-Aufgaben nicht verlangen; es macht schon genug Mühe, jeden aufgestellten Stein zu rechtfertigen. Rösslers Spezialgebiet ist das Hilfsdoppelpatt. Schwarz beginnt, und beide Parteien arbeiten so zusammen, dass Weiß mit seinem letzten Zug pattsetzt, aber auch selbst - wäre er am Zug - patt steht. Bei Nr. 11 kommt als weitere Besonderheit hinzu, dass es sich um eine »Zwillingsaufgabe« handelt. Dabei entsteht durch eine einzige Stellungsveränderung ein neues Problem mit gleicher Forderung und verwandter Thematik. Die Position mit wK nach g2 ergab sich aus einer latent in der Stellung vorhandenen Nebenlösung, die so schön war, dass sie über den Zwilling Daseinsberechtigung erhielt. Die kopfstehende Dame auf d3 ist ein »Grashüpfer« (G). Er zieht bzw. schlägt auf Damenlinien auf das Feld unmittelbar hinter einem Stützstein. Der Grashüpfer d3 könnte also b3, f1 oder h3 besetzen. Das Thema ist bei a) Beseitigung weißer Masse durch einen »Springer-Stern«, bei b) dagegen Einsperrung der weißen Masse und Unterverwandlung in den G (Bauern dürfen in solche Märchenfiguren umgewandelt werden, die bereits im Stellungsbild vorkommen).

Im Juni 1962 zog Lothar Finzer von Mannheim nach Speyer. Er begann erst ab 1968 zu komponieren und veröffentlichte seine ersten Probleme im Mannheimer und Heidelberger Raum. Dann fasste er auch in pfälzischen Schachecken Fuß. Im »Pfälzer Tageblatt« und im schon erwähnten »Pälzer Feierowend« wurden Aufgaben von ihm gebracht. Daneben war er gelegentlich in einigen überregionalen Blättern wie »Die Zeit« und »Die Welt« und immer wieder auch im »Mannheimer Morgen« in der großen Schachspalte von Dr. Werner Lauterbach sowie in den Problemzeitschriften »Die Schwalbe«, »Schach-Echo« und »feenschach« zu finden. Finzer fand sehr schnell Kontakt zu Helmut Rössler, der immer bestrebt war, das Problemschach in Speyer zu fördern.

Dadurch stießen später noch die jungen Brüder Peter und Matthias Flörchinger dazu. Es entstand ein Kleeblatt, das sich im Hause Rösslers manchen Samstagnachmittag dem Problemschach hingab und 1974 bei der Deutschen Problemlösungs-Vereinsmeisterschaft das Team des Schachclubs bildete. Als starke Partiespieler, die sie später werden sollten, fanden die Flörchinger zuweilen auch am Problemschach Gefallen, wobei es sehr nahe lag, dass sie sich vorwiegend mit Studien befassten. Bei Nr. 12 sollen K und D die Plätze tauschen, aber wie? Die Gewinnstudie Nr. 13 ist durchaus partiegemäß, während die Gemeinschaftsarbeit Nr. 14 einen schwierigen Remisweg einschlägt, der in der Partie seltener vorkommt.

Lothar Finzer war ausdauernder im Komponieren, wobei er sich jedoch weniger auf dem Gebiet des normalen 2-, 3-, 4-zügigen Problems betätigte; seine Vorliebe und Stärke liegt in der retrograden Analyse. Es ist dies die Untersuchung einer Stellung daraufhin, wie sie aus der Partieanfangsstellung in einer theoretischen Partie (Beweispartie) entstanden sein kann, wobei die Züge dieser Partie nur den Regeln nach zulässig, aber nicht im Kampfsinne plausibel zu sein brauchen. Diese sog. »Legalität« wird für jedes Problem verlangt. Bei entsprechend gebauter Stellung ergeben sich daraus kriminalistisch anmutende, kombinatorische Rückschlüsse darüber, ob evtl. nicht Weiß, sondern nur Schwarz am Zug sein muß, ob noch rochiert werden darf, ob mit einem E.p.-Schlag begonnen werden darf, ob ein Remis nach der 50-Züge-Regel berücksichtigt werden muß, oder ob einfach die zuletzt geschehenen Züge eine besonders raffinierte Kombination darstellen. Der Inhalt solcher Probleme liegt somit mehr in der Vergangenheit und weniger in der Zukunft wie beim Normalproblem. Das macht es dann möglich, sogar ein »Matt in 1 Zug« und selbst ein »Matt in 0 Zügen« (wie kam es dazu?) als Darstellungsform zu wählen. Probl Dias15 16Einige Beispiele nun aus Finzers Schaffen. Nr. 15 ist seine Erstveröffentlichung in der Pfalz. In Nr. 16 kann Weiß scheinbar auf zweierlei Art mattsetzen, oder ist gar Schwarz am Zuge? Die Lösung in Nr. 17 (1. Lh6 Kx5e 2. Lg7=1) erscheint wohl etwas banal! Nr. 18 ist nur lösbar, wenn Schwarz nicht rochieren darf. Aber mit seinem Bauern kann er 18 verschiedene letzte Züge ausgeführt haben, da soll das Rochaderecht zerstört sein? Beim Selbstmatt (Nr. 19) will jede Partei selbst mattgesetzt werden, sträubt sich, den Gegner mattzusetzen und versucht stattdessen, diesen durch Schach-oder Zugzwanggebot zum widerwilligen Mattzug zu zwingen (Definition Finzer). Probl Dias17 18Nr. 20 zeigt einen normalen 4-Züger aus neuester Zeit, der gegenüber Nr. 15 doch eine Entwicklung im Verlauf der Jahre erkennen lässt. Natürlich hat auch der Turniersport selbst im Problemschach Eingang gefunden. Informalturniere erfassen automatisch alle Urdrucke einer Problemzeitschrift, die innerhalb eines bestimmten Zeitraumes erschienen sind. Zu besonderen Anlässen werden formale Turniere ausgeschrieben, dabei sind Thematurniere, bei denen ein bestimmtes Thema behandelt werden muss, sehr beliebt. Schließlich seien noch Städte-und Länderkämpfe erwähnt. In den 50er Jahren kam es zu mehreren Begegnungen Pfalz-Baden, wobei die Pfalz-Mannschaft (Dr. Bachl, Hasenzahl, Rössler, Schaab und Schattner) meist die Nase vorn hatte. Rössler und Finzer konnten bei solchen Turnieren schon beachtliche Erfolge erringen, wie die gezeigten Stücke belegen.Probl Dias19 20

Im Jahre 1974 schrieb die »Schwalbe«, Deutsche Vereinigung für Problemschach, aus Anlass des 50-jährigen Gründungsjubiläums ein Problemlösungsturnier für Vereine aus. Der Schachclub Speyer beteiligte sich mit der Mannschaft H. Rössler, L. Finzer, Peter und Matthias Flörchinger. In der 1. Runde waren Urdrucke der »Schwalbe« (Juni 1974) zu lösen, darunter ein 8-Steiner des Teammitglieds Finzer (Nr. 21). In der 2. Runde stellte das »Schach-Echo«, in der 3. das »feenschach« und in der letzten Runde die »Deutsche Schachzeitung« die zu lösenden Probleme. Insgesamt nahmen 43 Vereine teil, jedoch nur 27 hielten bis zur Schlusswertung durch, in der Speyer mit 1058 Punkten den 12. Platz belegte.Probl Dias21 Als bleibenden Gewinn verbuchte das Speyerer Quartett die kameradschaftliche Zusammenarbeit und die Freude über jede geknackte Nuss sowie über jede nachgewiesene Nebenlösung bzw. Unlösbarkeit.
Bei der 2. Bundesdeutschen Einzelmeisterschaft im Lösen von Schachproblemen am 23. und 24. März 1978 in Worms gingen vom Schachclub Speyer L. Finzer und H. Rössler an den Start. Nach wechselvollem und bis zuletzt spannendem Verlauf siegte Titelverteidiger G. Rinder aus München mit 59 Punkten vor H. Rössler (55 P.) und Dr. H. Axt (52 P.). Für Rössler bedeutete der unerwartete 2. Platz zugleich die Qualifikation für die deutsche Zweier-Mannschaft bei der 2. Mannschaftsweltmeisterschaft am 3. und 4. September in Canterbury. Hier belegte die Bundesrepublik mit dem Team Rinder/Rössler unter 13 teilnehmenden Nationen den 7. Platz; es siegte Finnland vor Jugoslawien und Israel.

Während die Brüder Flörchinger sich schließlich ganz dem Partie-und Mannschaftsschach zuwandten, trafen sich Rössler und Finzer regelmäßig bei den halbjährlich stattfindenden Treffen der pfälzischen Problemfreunde (stets auch mit Gästen von außerhalb), die in den Räumen des Schachclubs Ludwigshafen 1912 abgehalten und zuerst von Dr. Ernst Bachl, Worms, dann von Dr. Hermann Weißauer (ehemaliger Bundesligaspieler bei LU 1912!) geleitet wurden. Rössler und Finzer gerieten in Meinungsdisput über gewisse theoretische Dinge und entfremdeten sich.
Lothar Finzer verfasste noch bis Mitte der 80er Jahre eigene Kompositionen, im Ganzen nur etwas mehr als 50 Aufgaben, die in verschiedenen Tageszeitungen sowie in den Schachmedien "Rochade Europa", "Die Schwalbe", "Schach-Echo" und "feenschach" erschienen, verlegte sich aber mehr und mehr auf die Erforschung und Dokumentierung theoretischer Zusammenhänge und publizierte einige Abhandlungen in "Rochade Europa" und "Die Schwalbe'''. Heute, nachdem er sich aus Altersgründen vom Tumierspiel zurückgezogen hat, bleibt ihm das Problemschach, und er hofft, in seiner Lieblingsthematik, die ihn überhaupt erst zum Problemschach gebracht hatte, dem retroanalytischen Problem, noch etwas leisten zu können.
Rössler zog sich, etwa in den 90er Jahren, wegen schwerer Erkrankung von den Problemisten-Zusammenkünften in Ludwigshafen zurück, und es wurde still um ihn. Gelegentlich hörte man noch von ihm im Zusammenhang mit Veranstaltungen der Volkshochschule
oder des Seniorenbüros von Speyer. Am 20. Februar 2012 verstarb Helmut Rössler.

Diese Chronik des Speyerer Problemschachs soll zugleich zeigen, dass diese schachliche Disziplin durchaus reizvolle Aspekte des Spiels beinhaltet und vom Turnierschach gar nicht so weit entfernt ist. (lf.)

Die gezeigten Stücke sind zum Selbstlösen empfohlen. Sollten Sie nicht zum Ziel kommen, so finden Sie die Lösungen hier.

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